Dieses Bild, überaus reich an wundersamen Symbolen, erzählt mir eine Geschichte von den Polaritäten, jener Kräfte, die seit eh und je das irdische Leben bestimmen und ohne die es hier vielleicht gar kein Leben gäbe. Nichts, das diesem Kräftespiel nicht unterworfen wäre, kein Ort, kein Bezug und kein Aspekt, in dem sich der ewige Tanz von Dunkel und Licht nicht spiegeln würde.

Wer sind also die beiden Kinder, die so versunken in ihren Lebensbüchlein zu blättern scheinen? Es sind Zwillingsgeschwister, entsprungen aus demselben Mutterschoß und gezeugt vom gleichen Vater. Dennoch sind sie so verschieden und völlig gegensätzlich in ihrer Wesensart, als hätten die polaren Kräfte des Universums selbst bei ihrer Zeugung an beiden Seiten des elterlichen Lagers Paten gestanden. Während das eine Kind die Dunkelheit verkörpert und sein Herz die finstere Schwärze tausender mondloser Nächte in sich birgt,  verströmt das Wesen des anderen die freundliche Helligkeit des ewigen Tages. Da das Licht jedoch auch immer das Dunkle in seinem Kern mit sich trägt sowie die Dunkelheit wiederum das Licht, gleichen die zwei Kinder einander äußerlich aufs Haar. Beide sind in Schwarz und Weiß gekleidet, haben dieselben Gesichtszüge und sind einander in ihrer Kraft ebenbürtig.

Drohend ragt im Hintergrund der dominante Schwarze Turm auf, bewohnt von unzähligen dunklen Schattenvögeln. Diese Wesen strömen jeden Tag aus, um die Menschenwelt heimzu-suchen und ihr die Gaben der Furcht und Trostlosigkeit zu bringen. Demgegenüber stehen die drei Goldenen Tore des Sonnenvogelhauses, in dessen Bereich die Kinder sitzen, ein Hinweis auf die Urheimat ihrer Seele. Die Tore verströmen ebenso viel Licht wie der Schwarze Turm Dunkelheit. Aufgabe der Sonnenvögel ist es nun, das Wirken der Schattenvögel auszugleich-en und auf ihren goldglänzenden Schwingen die Gaben des Heiles in die Welt zu tragen. In diesem wechselseitigem Rhythmus wird seit Äonen die fragile weltliche Balance zwischen Hell und Dunkel aufrechterhalten. Es ist jene Balance, die es dem Menschenvolk ermöglicht, sein uraltes Erdenspiel von Gut und Böse zu spielen und sich selbst dabei in allen Rollen zu erleben, die es gibt.

Wie bei allen Spielen gilt es auch hier, das empfindliche Gleichgewicht der beiden Kontrahenten – der Dunkelheit und des Lichtes – nicht über die Maßen zu stören. Keine der beiden Seiten darf mehr Macht über die andere erlangen als notwendig ist, um immer wieder Ausgleich zu schaffen und vor allem das Spiel in Bewegung zu halten. Um dem Rhythmus des schwarz-weißen Pendels gleichmäßigen Schwung zu verleihen, gibt es ein besonderes Instrument, den Brunnen der Finsternis, bewacht vom unscheinbaren Weißen Vogel der Neutralität. Wer findet ihn? Der Brunnen ist über einen Fluss auf geheimnisvolle Weise sowohl mit dem Schwarzen Turm, als auch mit dem Goldenen Sonnenvogelhaus verbunden – ein versteckter Hinweis darauf, dass Licht und Dunkel beide derselben Quelle entspringen.

Was tun nun die beiden Geschwister? Immer wenn die Balance zwischen Dunkel und Licht
zu sehr außer Kontrolle zu geraten droht, beginnen sie miteinander zu ringen. Das irdische Kräftegleichgewicht ist aus den Fugen und erzeugt Disharmonie. Dies ist die Stunde des Weißen Vogels der Neutralität, der durch ausgleichendes Hinzufügen oder Wegnehmen für die Beruhigung der weltlichen Gezeiten sorgt. So trinkt er manchmal aus dem Brunnen der Finsternis, badet darin oder schöpft aus ihm dunkle Flüssigkeit ab, bis das Pendel der Gegensätze wieder ruhiger schwingt.

Denn das Bild birgt eine Botschaft: Zum Erhalt der Balance sollen auch die Kräfte des Lichtes niemals stärker werden als die der Dunkelheit. Jedes Zunehmen an Kraft, egal auf welcher Seite, lässt über kurz oder lang auch die andere Seite erstarken. Wird der Kontrast dann zu groß, kann er das Spiel der Gegensätze, das die Menschen so fasziniert, empfindlich stören. Denn je extremer die Gegensätze, desto größer die Ablenkung vom Wesentlichen, um das es bei dem Spiel tatsächlich geht: der Erkenntnis des Selbst und seiner Spiegelungen.

Und die Kinder? Die beiden ungleichen Geschwister (Synonyme für uns Menschenkinder) führen ein spannungsreiches Leben, das sie dem Erforschen ihrer Verschiedenartigkeit gewidmet haben. Sie lieben es, einander herauszufordern und ergänzen sich in ihren Kontrasten perfekt. Dann und wann, wenn das Gleichgewicht aus den Fugen gerät, streiten und kämpfen sie. Doch das ist nicht schlimm, weil sie auf diese Weise sehr viel über das Leben und sich selbst erfahren.

Gibt es allzu großen Tumult, greift der Weiße Vogel der Neutralität ein, um die Balance wiederherzustellen. Doch selbst er tut dann nur das Allernötigste, um ja nicht zu viel Harmonie zu schaffen. Er weiß, ein völliges Gleichgewicht würde vielleicht zur Auflösung der Gegensätze führen. Und das wollen die Menschenkinder doch gar nicht, oder? Denn das wäre ja vielleicht das Ende dieses unglaublich spannenden, verwirrenden und betörenden Erdenspiels.

Ein besonders interessanter Bereich beginnt bei der Frage, wen oder was symbolisiert also der Weiße Vogel? Hier enthalte ich mich der Deutung bewusst. Doch wer die Antwort kennt, hat wahrscheinlich ein großes Rätsel entschlüsselt.

Versteh‘ das Geheimnis von Dunkel und Licht!
Wer es begreift, der sorgt sich nicht.
Er tanzt gekonnt den Tanz des Lebens,
schert manchmal aus der Mitte aus.
Kennt keine Furcht, denn der Weiße Vogel
trägt ihn wieder gut nach Haus.

aus dem Buch „Mondlichtzimmer“,
einer Begegnung von Malerei & Wortkunst:

Mondlichtzimmer