Es kam eine Zeit, als die Dinge auf dem Planeten Erde mehr und mehr aus dem Ruder zu laufen begannen. Ganz offensichtlich hatten die Menschen etwas Wesentliches vergessen – etwas, dem sie je nach Kultur, Tradition und Persönlichkeit unterschiedliche Namen gegeben hatten. Immer jedoch meinten sie damit etwas, das größer, stärker und tiefer war als sie es sich mit ihrem begrenzten, menschlichen Geist vorstellen konnten und das auf irgendeine geheimnisvolle Weise alles miteinander verband. Eine Wesenheit, ein Zustand oder ein Ort, von dem alles Leben kam – auch sie selbst – und in das alles wieder mündete, wenn die Zeit gekommen war.

Der ursprüngliche Plan A war gewesen, mit dem Planeten Erde ein Spielgelände zu schaffen, wo die Menschen sich selbst in allen Variationen erfahren konnten, die das Leben in physischer Begrenzung zu bieten hat. Dazu wurde ihnen alles zur Verfügung gestellt, was das Herz begehrte: eine intakte Natur mit Landschaften, Flora und Fauna in so unerschöpflicher Vielfalt, wie sie auf kaum einem anderen Planeten im Universum zu finden ist. Und das Allerbeste waren die Gegensätze! Männlich und weiblich, Dunkel und Hell, Freude und Trauer, Nähe und Distanz – eine grandiose Welt der Kontraste. Kein Zweifel, die dramaturgische Gestaltung des Projektes Erde war perfekt. Und so spielten sie miteinander und erfuhren das Wunder der emotionalen Vielfalt. Die Rollen wurden durchgetauscht, die Gegensätze übernahmen abwechselnd das Regiment, im Kleinen wie im Großen. Immer stellte sich die Balance irgendwie von selbst wieder ein. Das war wichtig, denn auf der Basis dieser Balance konnten der Planet und seine Geschöpfe sich stetig weiterentwickeln und gedeihen.

Irgendwann begann sich die Atmosphäre auf dem Planeten jedoch in eine Richtung zu bewegen, die von dem ursprünglichen Gedanken der Balance immer mehr abwich. Damit einhergehend war die Vorstellung von jenem Wesentlichen in den Hintergrund getreten, das alle Menschen, alles Leben miteinander verband. Die Folgen waren katastrophal. Die Natur des Planeten erlitt nun ein Ausmaß von Drangsal, Ausbeutung und Vernichtung, wie man es noch nicht gesehen hatte. Da sich kaum noch jemand als Bestandteil eines einzigen, lebendigen, großen Weltenorganismus empfand, starb mit der Zeit auch jegliches Bewusstsein für Maß, Rücksicht und Empathie. Jeder nahm sich das, was er wollte und so viel er wollte, ohne sich darum zu kümmern, welche Spuren er damit auf dem Planeten hinterließ. Im Laufe weniger Generationen stand die Erde knapp vor einem Kollaps: Die Ressourcen waren nahezu aufgebraucht, die Naturreiche ausgebeutet und vergiftet, die Gesellschaft gespalten und das Leid der Kreatur hallte in einem einzigen großen Klageschrei durch das Universum. Es war ein Trauerspiel.

Nun kam Plan B zum Einsatz, auch Mission der Engel genannt. Auf diese Wesen waren alle Hoffnungen gesetzt. Sie wurden zur Erde entsandt, um das Schicksal des Planeten zum Besseren zu wenden und die Balance wiederherzustellen, die es schon viel zu lange nicht mehr gegeben hatte.

Als die Zeit gekommen war, sich zu verabschieden und für einen unabsehbar langen Zeitraum in das Vergessen der irdischen Dichte hinabzusteigen, sah der erste Engel sich ein letztes Mal unter Seinesgleichen um.

„Ich gehe, aber nur unter einer Bedingung“, sagte er. „Wenigstens in meinen Träumen möchte ich fliegen können.“

Als ihm dies zugesichert wurde, war er zufrieden. Er schloss die Augen und nahm vertrauensvoll die Embryonalhaltung ein. Er wusste ja, es war nicht für immer, und unzählige seiner Art würden ihm noch folgen. Kurz darauf hatte er seine Heimatebene verlassen.

Ihre Mission ist nicht die einfachste, doch erste Erfolge der Menschenengel sind zu verzeichnen. Die Kraft zum Durchhalten bekommen sie von ihren erstaunlichen kreativen Fähigkeiten, ihrem mitfühlenden Herzen und all den wundervollen Reisen, in denen sie nachts, wenn ihr Körper ruht, die irdische Schwere hinter sich lassen und wie ein Vogel über die dunklen Landschaften ihrer Träume hinweggleiten.


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