Nur die Liebe bleibt

Du wusstest nicht, Mutter
wie sehr ich mir gewünscht hätte
dich glücklich zu sehen
und wie viele Male mir dein Scheitern
das Herz in tausend Stücke brach
Also funktionierte ich still
im Räderwerk deiner Erwartungen
Wollte ich doch nur eines sein
dein kleiner, dich rettender
Engel

Du wusstest nicht, Mutter
wie sehr ich mich danach sehnte
von dir anerkannt
und als das gesehen zu werden
was ich tatsächlich war
auch dann noch
als ich – gegen deinen Willen –
meine eigenen Wege zu gehen begann
um mein Glück zu suchen
Blieb ich doch weiterhin
dein kleiner, dich liebender
Engel

Mühevoll waren diese Wege
reich an Tränen, Wut und Schmerz
bis ich irgendwann begriff
es war nicht meine Aufgabe
dich glücklich zu machen
oder dein Scheitern zu verhindern
und ich tat Recht daran
selbst glücklich zu sein
auch wenn du es nicht warst

Du wusstest nicht, Mutter
dass ich dir niemals ähnlich werden wollte
so unerbittlich
so anklagend
so bedrohlich
und einsam zuletzt
Nein, ich wollte deine Farben nicht tragen
dein verzweifeltes Nachtschwarz
dein grollendes Karminrot
dein trauriges Indigo

Nun aber, Mutter, finde ich all deine Farben
eingewoben in mein Seelenkleid
sehe sie im Schillern meiner eigenen Iris
und bewundere ihre Reflexionen
in den Dingen des Lebens
die mich umgeben

Doch schau
ich habe das Schwarz deiner Verzweiflung
in sanftes Nachtschattenblau gewandelt
und dein grollendes Karminrot
in das leuchtende Orange meines Mutes
Selbst dein trauriges Indigo
hat als Lavendelblau der Zärtlichkeit
Platz in meinem Leben
gefunden

Und welch ein Glück
Kurz bevor deine Augen brachen
und ich zum letzten Mal an deinem Bette saß
konnte ich das Licht des Erkennens
in deinem Blick sehen, Mutter
Da endlich wusstest du
was ich dir immer war
und sein werde
Dein kleiner, dich liebender
Engel

Andrea Eleonora Maier

aus dem Buch „Mondlichtzimmer“
Begegnung von Malerei & Wortkunst
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Mondlichtzimmer

Titelfoto: www.pixabay.com