Einblick in andere Welten

Weit droben in den wilden Bergen meiner Heimat gibt es ein Felsmassiv von ganz besonderer Art. Sitzt man an den gegenüberliegenden Hängen dösend und zwinkernd in der Abendsonne, dann sieht man recht bald die bizarren, aus Stein, Licht und Schatten geformten Gesichter der alten Berggeister aus dem Fels hervortreten. Gebannt in jahrtausendealte Gesteinsmassen, thronen sie hoch über der Landschaft und scheinen ein wenig argwöhnisch auf die Menschenwelt hinabzuschauen.

Sobald man das erste Felsengesicht erblickt hat, sollte man sich nicht gleich erschrocken über die Augen wischen oder gar seine Sinne anzweifeln, denn damit verwehrt man sich die Sicht auf mehr von diesem Wunder. Heftet man seinen Blick weiterhin ungerührt auf den Berg, wird sich das Felsengesicht immer deutlicher aus dem Stein hervorheben und seine Persönlichkeit durch ganz eigentümliche Form und Züge preisgeben. Ruhig und klar im Geiste sollte man bleiben und wohlwollend dem alten Berggeist, der sich da zeigt, einen Gruß zunicken. Und einfach weiterschauen, denn das war erst der Anfang des übernatürlichen Spektakels.

Eines nach dem anderen werden sich dem verzückten Betrachter nun weitere Gesichter offenbaren und ihn noch einige Male an seinem Verstand zweifeln lassen wollen. Dieser Regung sollte man keinesfalls nachgeben, sondern getrost den Bildern vertrauen, die hier vom Auge an das Gehirn übermittelt werden. Man mag versucht sein, all die Gesichter zu zählen, die nun am Berg sichtbar werden, doch das wird nicht gelingen! Jedes Mal, wenn man von neuem mit dem Zählen fertig geworden ist, wird eine andere Zahl herausgekommen sein. Meint man, ein Gesicht fest umrissen ausmachen zu können, mischt sich vielleicht schon ein zweites in dasselbe, als wären die Wesen im Stein miteinander und ineinander verwoben. Große Gesichter können aus kleineren zusammengesetzt sein, und versucht man erst, die ganz kleinen zu zählen, könnte man schier verrückt werden dabei.

Hat man sich lange genug den Felsengesichtern gewidmet und zufällig die passende Tageszeit erwischt – den Übergang vom späten Nachmittag zum frühen Abend – dann kann es sein, dass einem nun ein ganz besonderes Geschenk zuteil wird. Der Anblick der verwunschenen Stadt am Berg! Keiner weiß, ob es sie einmal wirklich dort gegeben hat, ob sie von Menschen- oder von Heinzelmännchenhand erbaut wurde. Oder ob sie vielleicht auch jetzt noch dort existiert und sich nur dem gewöhnlichen Blick entzieht. Soviel ich weiß, ist die Zahl derer, die sie bereits gesehen haben, nicht unbeträchtlich: Eine kleine Stadt aus dichtgedrängten Häusern, die sich an den Berg schmiegen und aus demselben Material beschaffen zu sein scheinen wie er – blankem Fels.

Meist zeigt die magische Stadt sich dem menschlichen Auge nur für die Dauer von ein paar Wimpernschlägen. Sowie der ungläubig Schauende sich die Augen reibt, ist sie auch schon wieder verschwunden. Keiner kennt die geheimnisvollen Bewohner der Stadt am Berg, und niemals ist es jemandem gelungen, sie zu betreten. Gar zu groß sind Schreck, Verwunderung und Unglaube der Menschen, die ihrer ansichtig werden.

Nicht auszudenken, welch phantastische Reiche sich uns Menschen offenbarten, könnten wir endlich alle Zweifel und Angst überwinden. Überließen wir uns einfach unseren natürlichen Sinnen, ohne zurückzuscheuen, sobald uns etwas unerklärlich erscheint! Wie viele neue Welten würden sich uns dann wohl erschließen?

wortmalereien.com
Titelbild: pixabay.com