Eine Frau schiebt den leeren Einkaufswagen quer über den Parkplatz. Irgendwo hupt ein Auto, hastig schieben sich Menschen an ihr vorbei, den zerstreuten Blick gesenkt. Neonreklamen hinterlassen einen fahlen Schein auf den Gesichtern und verstärken den müden Ausdruck, der auf ihnen liegt.

Sie steuert auf den Supermarkt zu und tastet mechanisch nach ihrem Portemonnaie. Den Einkaufszettel hält sie schon in der Hand.

Da sieht sie ihn, diesen Mann, dessen Nachnamen sie nicht kennt. Und ist mit einem Mal hellwach. Er verharrt, dreht den Kopf ruckartig in ihre Richtung. Sie lächeln. Es ist schon viele Wochen her, seit sie einander das letzte Mal gesehen hatten, aus dem Auto heraus. Es waren nur ein paar Sekunden gewesen oder Bruchteile davon. Im Radio hatten sie „Wonderful world“ gespielt, er hatte im Vorbeifahren den Kopf leicht zum Gruß gesenkt und gelächelt. Ihr hatte es dabei den Atem verschlagen.

Fast hätte sie das Auto herumgerissen und wäre ihm hinterhergefahren. Aber nein, das ging doch nicht. Wie hätte das denn ausgesehen. So war sie stattdessen nur an den Straßenrand gefahren und hatte ihm hinterher gestarrt.

Wie oft hatten sie sich zufällig getroffen in den letzten dreizehn Jahren? Wie oft einander angesehen, dann genickt, ihren Weg fortgesetzt, ohne ein Wort zu wechseln? Diese angenehme Sympathie gespürt, dieses kaum wahrnehmbare Aufflackern im Blick gesehen. Bis zu diesem Tag, an dem sie das Gefühl überkam, dass all diese Begegnungen kein Zufall waren.

Nun kommt er in ihre Richtung, um seinen Einkaufswagen zu den anderen leeren Wägen zurückzuschieben. Sie hält den Augenkontakt weiter, lächelt. Er mustert sie. Dann, im letzten Moment, ehe sie an ihm vorübergeht, zieht sie ihren Blick von ihm ab und geht weiter.

Sie würde sich später noch oft fragen, warum sie in diesem Moment nicht mehr Mut gehabt hatte. Was wäre gewesen, hätte sie den Blick nicht abgewandt? Irgendetwas sagte ihr, es bräuchte nur eine einzige Gelegenheit, ein Wort, ein Gespräch – und dann könnte es passieren.

Viele Wochen vergehen, in denen sie ihn nicht sieht. Ihre Gedanken drehen sich fast nur noch um ihn und die Frage, wo sie ihm begegnen kann. Sie erträumt sich eine passende Gelegenheit nach der anderen. Lässt auch im Alltag keine davon aus. Und fühlt sich gleichzeitig wie ein Stalker. Doch sie hat bereits aufgehört, sich zu fragen, was hier mit ihr passiert. Es ist stärker als sie.

Dann endlich. Sie trifft ihn wieder, als sie gerade in ihren Wagen steigen will. Er fährt vorbei und wendet im Auto den Kopf nach ihr. Fährt weiter. Jetzt das Richtige tun. Sie überlegt nur kurz, dann steigt sie in ihren Wagen und fährt ihm hinterher.

Tatsächlich, hinter der nächsten Biegung steht sein Auto am Straßenrand, direkt vor dem Bäckerladen. Ihr Herz vollführt einen Trommelwirbel, ihre Hände zittern. Sie parkt in der Nähe, steigt aus und geht in den Laden, um irgendwas zu kaufen. Sieht ihn durch die Fensterscheibe, er scheint im Auto zu telefonieren. Jetzt gibt es nur Eines, und sie weiß das. Sie bezahlt und verlässt den Laden. Tritt an sein Auto, beugt sich hinab und grüßt ihn durch die Windschutzscheibe. Frontalangriff. Er sieht sie an und wirkt leicht schockiert, als er die Scheibe hinablässt.

„Hallo. Störe ich?“, fragt sie mit einem Kopfnicken zu seiner Freisprechanlage hin.

Er grüßt sie überrascht, unterbricht das Telefonat. Blickt sie an, immer noch irgendwie fassungslos. Da nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen und sagt:

„Entschuldige, ich wollte dich nicht so überfallen. Ich wollte nur fragen, ob wir uns nicht mal treffen können.“

Er starrt sie fast bestürzt an. „Wofür?“, fragt er doch tatsächlich.

Verdammt. Er ist wirklich schockiert. Er fällt aus allen Wolken. Doch ohne zu zögern sagt sie:

„Um einen Kaffee zu trinken.“

Da steigt er endlich aus. Schließt die Autotür, stellt sich ihr gegenüber. Er lächelt noch immer nicht. Verflixt, diese Situation fühlt sich seltsam an. Sie fragt sich jetzt, ob sie sie sich vielleicht doch geirrt hat und einer Illusion erlegen ist.

Dann endlich, etwas in seinen Augen. Es ist nicht direkt ein Lächeln, aber eine Art Aufleuchten. Etwas, das ihr das Herz erwärmt. Genau das war es, genau deshalb befindet sie sich jetzt hier in dieser skurrilen Situation.

„Du möchtest, dass wir uns zum Kaffee treffen?“, wiederholt er ihre Frage. Als sie bejaht, lacht er kurz, schüttelt ungläubig den Kopf – nicht direkt verneinend.

„Ich habe drei Kinder“, sagt er im nächsten Moment.

Sie antwortet nicht. Sie sieht nur in seine Augen. Dann unterhalten sie sich eine Zeit lang. Auch über früher, als sie sich in der Arbeit regelmäßig gesehen hatten. Damals war sie schon drauf und dran gewesen, auf ihn zuzugehen, doch dann war ihr eine Beziehung dazwischen gekommen. Und nein, ein Treffen zum Kaffeetrinken, das geht nicht so einfach. Wegen der Kinder und der Freundin. Sie sagt ihm trotzdem geradeheraus, dass sie ihn unglaublich sympathisch findet. Da schließt er für einen kurzen Moment die Augen und wirft dann lachend den Kopf zurück.

„So was ist mir noch nie passiert“, meint er und fährt sich mit dieser herrlich unbeholfenen Geste durchs Haar. „Und ich bin heut noch nicht mal zurechtgemacht…“

Sie unterdrückt ein Lachen. Er ist wirklich von den Socken. Dann gibt sie ihm ihre Visitenkarte und meint:

„Vielleicht fangen wir mit einer Email an.“

„Das machen wir“, entgegnet er und gibt ihr seine.

Sie hält ihm zum Abschied die Hand hin. Er ergreift sie, und es scheint kurz, als wolle er sich hinüberbeugen, um sie auf die Wange zu küssen. Aber sie kann sich auch getäuscht haben.

Sie setzt sich in ihr Auto, startet, immer noch vibrierend. So einfach war das also?

Zwei Stunden später schickt sie ihre erste Email an ihn ab. Seine folgt am späten Abend. Er ist neugierig und schreibt sehr feinfühlig. Aber er macht kein Hehl daraus, dass er Bedenken hat. Sie spürt seine Unsicherheit, seine Angst. Es ist doch ein kleiner Ort hier, man kennt sich, und die Leute reden… Er fragt sie direkt, wie sie beide das alles nun anstellen sollten.

Sie antwortet noch in derselben Nacht. Erzählt von sich und ihren Erwartungen. Oder Nicht-Erwartungen. Von ihrer Art und Weise, mit einer besonderen Begegnung umzugehen und mit einem Geheimnis wie diesem. Gleichzeitig bittet sie ihn, nicht weiterzugehen, wenn er Schuldgefühle hätte. Dazu wäre es zu schade.

Dann badet sie in ihrer Vorfreude. Hält sich jedoch damit zurück, sich irgendetwas vorzustellen. Genießt stattdessen das Jetzt, das voller Verheißungen zu sein scheint. Wie eine Wiese voller Blütenknospen, die sich nun langsam entfalten wollen. In dieser Nacht schläft sie nur wenige Stunden, aber es ist genug.

Die Email, die sie am nächsten Mittag vorfindet, lässt sie unsanft landen. Sehr unsanft. Er macht einen Rückzieher.

„Jetzt, wo ich eine Nacht drüber geschlafen und angefangen habe, mir das alles auszumalen, muss ich sagen, dass ich bei dem Ganzen ein gewisses ungutes Gefühl habe. Da ist meine Familie, für die ich jetzt da sein muss und will. Ich hab schon jetzt keine Zeit für mich selbst, und viel zuwenig Zeit für die Kinder. Wenn ich auch noch mit einer Lüge leben muss – das schaffe ich nicht. Dafür hab ich einfach nicht die Energie. Ich bin eigentlich ganz froh, in einer Beziehung leben zu können, ohne relevante Geheimnisse haben zu müssen. Außerdem bin ich ein verdammt schlechter Lügner, und ich will auch gar kein guter Lügner werden. Es steht zuviel auf dem Spiel. Ich hoffe, dass ich Dich damit nicht verletze. Aber so wie ich Dich als Menschen einschätze, wirst Du das verstehen. Ich wünsche Dir alles Gute. Und dass Du findest, wonach Du suchst.“

Das sitzt. Sie liest die Email nur ein- oder zweimal, um sich nicht zu sehr dran wehzutun.

Natürlich, sie versteht ihn. Sehr gut sogar. Und seine Geradlinigkeit gefällt ihr. Sie hat nur überhaupt nicht mehr mit dieser Wendung gerechnet. Nun schreibt sie ihm kurz und tapfer zurück, während ihr das Herz blutet. Wünscht ihm und den Seinen alles Glück der Welt und meint es auch so. Seltsam, wie sich etwas anfühlen kann, das es so gesehen nie gegeben hat…

Hatte sie wirklich geglaubt, dass es so einfach werden würde? Dass eine Gelegenheit, ein Gespräch ausreicht? Dass ein treusorgender, loyaler Familienvater ihre Art zu leben verstehen und teilen würde? Für den Moment einer Begegnung? Ja, hatte sie. Und so ist es jetzt sie, die aus allen Wolken fällt und recht hart in der Realität landet. Aber sie kann es letztlich respektieren. Was sollte sie auch sonst?

Die Monate vergehen. Anfangs häufig, dann immer seltener checkt sie ihre Emails mit dem Hintergedanken, er könnte sich vielleicht doch noch mal melden. Wenn er seine Angst verdaut hat. Wenn die Saat gekeimt ist… Sie kann warten. Aber nein – lass den Unsinn. Schau nach vorn. Wirklich, es geht hier nicht um verletzten Stolz. Aber worum dann? Um die Anziehungskraft des Unerreichbaren? Oder war es etwas anderes, ganz anderes… Egal. Loslassen, loslassen ist nun die Devise. Sie tut ihr Bestes.

Einige Zeit später. Eine warme Sommernacht, Musik dringt aus den Fenstern von Altbauwohnungen und hallt wider an beleuchteten Häuserwänden. Menschen stehen vor den Lokalen und rauchen. Sie ist auf dem Rückweg zu ihrem Wagen, ihre Schuhe klackern auf den Pflastersteinen. Als sie gedankenverloren den Wagenschlüssel im Schloss herumdreht, spricht sie jemand mit ihrem Vornamen an. Sie fährt herum, und da steht er und sieht kein bisschen verlegen aus. Es fühlt sich an wie ein Magenschwinger, sie ringt um Fassung.

„Hallo“, sagt sie deshalb einfach.

„Können wir reden?“ entgegnet er und sieht sie auffordernd an. Seine Augen blitzen und lassen ihn unverschämt gut aussehen.

Später treffen sie sich am Wasser, wo die Nacht still und grün ist. Und dunkel, sehr dunkel.

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