Das Außergewöhnliche an Anne-Marie, der Protagonistin meines Kurzromans „Rosendorn“, ist ihre intuitive Veranlagung sowie ihre Fähigkeit, sich von inneren Bildern und Visionen führen zu lassen. Ein siebter Sinn, der – wenn man gewissen Stimmen Glauben schenken mag – grundsätzlich in allen Menschen angelegt ist, wenn auch tief verschüttet unter dem Ballast unserer rein am physisch Messbaren orientierten Vernunft. Dieser siebte Sinn nun befähigt Anne-Marie einerseits, sich in Krisensituationen zu orientieren und hilft ihr sogar dabei, ihren inneren Frieden zu finden, wo ein anderer wahrscheinlich verzweifelt wäre. Hätte sie über ihre Fähigkeiten offen gesprochen, wäre sie damals, im Frankreich des 17. Jahrhunderts, vielleicht sogar auf dem Scheiterhaufen gelandet. Hier eine kurze Leseprobe.

 

In der nächsten Zeit lebte Anne-Marie ein wenig wie in Trance, verrichtete ihre Aufgaben im Hause ihrer Eltern und wartete auf ein Zeichen, das ihr bedeutete, wie es weitergehen solle. Die Hochzeit mit dem Fabrikantensohn Eric Sabatier rückte immer näher, und sie wusste, dass sich bis zu jenem Tage etwas Entscheidendes ereignet haben musste. Sie hatte Dominique nicht wiedergesehen, aber ein fremder Bote hatte ihr einen letzten Gruß von ihm überbracht. Es war ein Ring, in den ein Wappen eingraviert war, welches aus vier Lilien bestand, ein Erkennungssymbol der Hugenotten.

Der Vater verhielt sich ihr gegenüber wie immer, es schien ihr sogar, dass er etwas milder gestimmt war als sonst. Anne-Marie hatte keine besonderen Empfindungen für ihn, und sie empfing auch keine Bilder in seiner Gegenwart. Angst verspürte sie nicht, weder vor dem, was ihr bevorstand, noch vor der Ungewissheit der Zukunft. Es war, als wüsste sie, es würde sich ein Weg auftun und sie würde diesen als den richtigen erkennen, wenn es soweit war.

Es hatte keine weiteren Übergriffe auf Hugenotten gegeben, und die Leute begannen wieder über andere Dinge zu sprechen. Die Eindrücke um jene alptraumhaften Ereignisse waren wie Meeresschaum, der urplötzlich mit einer Welle ans Ufer gespült wird und dessen Blasen mit der Zeit zerplatzen. Irgendwann ist nichts mehr davon übrig, und alles geht seinen gewohnten Gang.

An einem milden Vormittag im Frühling hatte Anne-Marie wieder einen ihrer Botengänge für den Vater zu erledigen. Als sie die Ware abgeliefert hatte, beschloss sie, einen Abstecher zum Flussufer zu machen, von wo aus man so gut auf das Kurtisanenviertel hinüberblicken konnte. Als sie dort stand und die bunten Häuser betrachtete, fasste sie einen Entschluss. Wenn alle Stricke zu reißen drohten, würde sie fliehen und sich in einem dieser Häuser zu verdingen suchen. Nicht, um die Künste einer Kurtisane zu erlernen, sondern um als Dienstmädchen im Hause einer der Damen zu arbeiten. Sie hoffte, dass ihre Identität dort einerlei wäre und sie somit unerkannt unterkommen könnte. Zumindest vorübergehend. Im Übrigen erhoffte sie sich von der Tatsache, dass sie des Lesens und Schreibens mächtig war, einen gewissen Vorteil.

Von diesen Gedanken inspiriert beschloss sie nun, kurz das Rote Viertel aufzusuchen und sich etwas umzusehen. Sie zog die Kapuze ihres Umhanges über den Kopf und überquerte die Brücke, die das Viertel mit dem Stadtkern verband.

Kurz nachdem Anne-Marie das berüchtigte Pflaster betreten hatte, konnte sie aus einiger Entfernung eine elegante schwarze Kutsche beobachten, die vor einem der Häuser zum Stehen kam. Ein Page sprang vom Treppenabsatz und öffnete die Tür der Kutsche. Dem Haus entstieg sodann eine prächtig anzusehende Dame, die mit wiegenden Schritten auf ihr Dienstfahrzeug zustolzierte. Das Kleid, welches die Dame trug, war aus einem edel fließenden Stoff geschneidert – es musste wohl Damast sein – und in schwarzen und roséfarbenen Streifen gehalten. Das enggeschnürte Mieder war am tiefen Ausschnitt mit üppigen schwarzen Rosetten verziert, und die Hände steckten in ebenfalls schwarzen Netzhandschuhen. Auf der hochaufgetürmten Lockenfrisur trug die Dame ein elegantes Hütchen mit einem dunklen Schleier, der das Gesicht halb verdeckte. Derartig aufgeputzt bestieg die Kurtisane, um welche es sich hier augenscheinlich handelte, nun die Kutsche. Der Page verschloss die Tür, und die Pferde setzten sich in Bewegung. Ziel war wohl das Anwesen eines vornehmen Kunden, der die Dienste der Dame später mit einer großzügig abgezählten Menge Goldmünzen quittieren würde.

Anne-Marie schlenderte weiter, vorbei an teils kunstvoll mit pikanten Szenerien bemalten Hausfassaden und einladend angelegten Vorgärtchen. Je weiter sie ging, desto einfacher und schmuckloser waren die Häuser gehalten. Irgendwann gelangte sie in ein ärmliches Viertel, das teilweise nur noch aus Hütten bestand. Von hier aus machten die gewöhn-lichen Dirnen ihre Streifzüge durch die Gassen, und hierher zogen sie sich später wieder zurück. Da die Nachmittagsstunde fast erreicht war, zu welcher es den Frauen offiziell erlaubt war, ihre Dienste öffentlich anzubieten, sah man da und dort bereits die ersten Mädchen aus den Häusern kommen. Aber wie anders waren sie anzusehen im Vergleich mit jener pompösen Kurtisane, die Anne-Marie noch kurz vorher beim Einsteigen in ihre Kutsche beobachtet hatte! Wohl trachteten auch diese hier, verführerisch auszusehen, und sie hatten gewiss ihre letzten Groschen dafür aufgewendet, um sich ein hübsches Stückchen Stoff um die Taille wickeln oder die blassen Wangen mit etwas Rouge zum Erröten bringen zu können. Aber man sah ihnen die Armut doch an und dass sie hart dafür arbeiten mussten, um an die Essensration zu kommen, derer ihr Körper nun einmal bedurfte, um weiter jener Arbeit nachgehen zu können, der sie sich verschrieben hatten. Die jüngeren Mädchen hatten teils noch sehr anziehende Gesichter, aber die der älteren Dirnen wirkten bereits ausgezehrt und hohläugig. Die meist fehlende medizinische Versorgung – das Honorar der Ärzte war einfach zu hoch – und schlechte Ernährung hatten die Auswirkungen des unsteten Lebenswandels noch verstärkt und die Frauen frühzeitig altern lassen. Die meisten von ihnen erkrankten irgendwann an der Syphilis, was einem Todesurteil gleichkam, da die wenigsten sich hiervon dauerhaft erholten und in den immer wiederkehrenden Krankheitsphasen ihrem Beruf nicht mehr nachgehen konnten. Dies wiederum beschleunigte ihre Verarmung und bedingte häufig einen verfrühten Tod durch Unterernährung, Krankheit oder Auszehrung.

Anne-Marie ging nun etwas schnelleren Schrittes durch diesen Bereich des Roten Viertels, sie spürte die Blicke der Mädchen und versuchte so unauffällig wie möglich zu wirken. Auch fühlte einen leichten Druck im Kehlkopf sowie eine Verengung im Brustkorb, die ihr das Atmen zunehmend erschwerten. Eine starke Beklemmung ergriff Besitz von ihr, begleitet von einer angstvollen Unruhe. Da hörte sie plötzlich ein seltsames Geräusch, eine Art Bellen, welches sie noch nie zuvor gehört zu haben glaubte. Sie wandte sich um in Richtung des Geräuschs und sah eine junge aschblonde Dirne, welche, in ein dünnes, buntgemustertes Tuch gehüllt, an einer Hausmauer lehnte und hustete. Doch war es kein gewöhnliches Husten, das dem schmalen Brustkorb des Mädchens entstieg. Die Erschütterungen beutelten ihren gesamten Körper und zwangen sie, sich an einem Wandvorsprung festzuklammern, um nicht den Halt zu verlieren. Das schauderhafte Geräusch, das ihrem Mund beim Husten entstieg, schien sich seinen Weg aus den untersten Tiefen der Lunge hinauf zu bahnen und war begleitet von einem Pfeifen und Krachen, welches vermuten ließ, dass sich hier etwas innerlich vom Körper zu lösen versuchte. Das Mädchen hielt sich nun ein Stofftuch vor den Mund, und Anne-Marie konnte erkennen, dass dieses leicht rötlich verfärbt war.

So sehr sie der Anblick dieses Mädchens auch erschreckte, so betroffen fühlte Anne-Marie sich gleichzeitig davon, so dass sie auf das Mädchen zuging, um es unter dem Arm zu fassen und während des erneut einsetzenden Hustenkrampfes zu stützen. Dabei warf sie einen Blick auf das dünne veilchenblaue Seidenkleid, das wohl irgendwann einmal schön gewesen sein mochte, nun aber fleckig und an den Säumen stark abgewetzt war. Das enge Mieder betonte noch die Magerkeit des Mädchens, dessen Oberarme bereits spindeldürr waren. Das mehr als großzügig aufgetragene Rouge konnte weder die Hohlwangigkeit noch die darunter liegende fahle Blässe verbergen. Als Anne-Marie das Mädchen vorsichtig anfasste, um es zu stützen, weiteten sich dessen Augen und zeigten einen eigenartigen Ausdruck des Entsetzens, den Anne-Marie zunächst nicht zu deuten wusste. Dann wurde ihr jedoch klar, dass die junge Dirne es wohl nicht gewohnt war, aus anderen Gründen als männlicher Begehrlichkeit berührt zu werden, und dass darüber hinaus normalerweise niemand einer offensichtlich an der Schwindsucht erkrankten Dirne zunahekommen mochte.

Anne-Marie fühlte sich weder von der Dirne selbst noch von deren gesundheitlichem Zustand abgestoßen. Als der Hustenanfall vorüber war und sich das Mädchen wieder aufrichtete, griff Anne-Marie wortlos in ihre Tasche und steckte ihm eine Münze zu, die sie für Eventualitäten immer bei sich trug. Sie würde der Mutter sagen, dass sie ihr in einer Menschenmenge abhanden gekommen war.

Das Mädchen betrachtete ungläubig das auf ihrem Handteller liegende Geldstück, und es schien, als habe sie schon längere Zeit nicht mehr soviel Geld auf einmal besessen. Da lächelte es, und Anne-Marie konnte sehen, dass sich auch die Zähne des Mädchens in einem sehr schlechten Zustand befanden. Sie nickte ihm zu, berührte es ein letztes Mal leicht an der Schulter und wandte sich schnell ab, um den Rückweg anzutreten…

 

aus „Rosendorn“ – Kurzroman
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70 Seiten, Softcover — 9,90 Euro
ISBN 978-3-939365-28-0
 

 

Die größte Illusion bei der Liebe ist es zu glauben,
der Andere wäre das Ziel.
In Wahrheit führt sie uns weit über das Ziel hinaus,
wenn wir sie lassen,
zieht einen Bogen,
formt einen vollendeten Kreis
und führt uns zu uns selbst zurück,
um dort endlich das zu finden,
wonach wir so lange vergeblich gesucht haben.