Sie nannten sie nur Feuerkind. Dabei mochte sie das Kindesalter schon weit überschritten haben. Es waren ihre Augen, diese brennenden Augen, und dieser Blick, aus dem immer etwas wie Verwunderung sprach. Sie tauchte immer auf, wenn man es am wenigsten erwartete, und verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Ihre Füße waren stets bloß, sogar in den Wintern, in denen die Kälte wehtat und die Erde vom Frost aufgerissen wurde. Einmal fand man ihre Fußspuren im Schnee. Sie hatten ihn schmelzen lassen und das Gras freigelegt.
Ihr dunkelrotes Haar stand ihr wild vom Kopfe ab, und ihre Wangen wirkten immer ein wenig erhitzt. Sie sprach nicht, doch dann und wann sah man sie lächeln.
Keiner im Dorf wusste, woher sie kam, nicht einmal die Ältesten. So mancher hatte sie schon im Wald gesehen, so dass gemunkelt wurde, sie hauste dort in einer Höhle. Gesehen hatte diese Höhle aber noch niemand. Sie wurde manchmal an Orten gesichtet, an denen kurze Zeit später Feuer ausbrach. Hexe, sagten jene, denen sie unheimlich war. Viele sagten jedoch gar nichts. Sie hatten bemerkt, dass Mensch und Tier meist verschont blieben, wo das Feuerkind gesehen worden war.
Der Junge sah sie anfangs nur zweimal. Einmal, als sie um das große Herbstfeuer herumstrich, scheinbar unsicher, ob sie näherkommen könne. Das zweite Mal im Wald, und das hatte er niemals wieder vergessen. Er sah sie um einen brennenden Baum tanzen, eine alte Buche, in die kurz zuvor der Blitz eingeschlagen hatte. Ihr Gesicht schien im Feuerschein zu flackern, sie hielt die Augen geschlossen und wand sich, als sei sie selbst eine Flamme. Sie war wunderschön. Dennoch erschauerte der Junge und machte kehrt. Die alte Buche jedoch wies am nächsten Tag nicht die geringsten Brandspuren auf.
Lange Zeit sah er sie nicht mehr. Dann, eines Tages, brannte der Pferdestall des Großbauern ab. Das Mädchen war wieder kurze Zeit zuvor in der Nähe des Hofes gesehen worden. Der Junge wollte mehr wissen und ging zum alten Pferdeknecht, mit dem er entfernt verwandt war. Von ihm erfuhr er, dass die Pferde in jener Nacht aus einem unerfindlichen Grund ausgebrochen waren. Genauer gesagt, sie waren nicht ausgebrochen, sondern einfach davongelaufen, weil das Gatter offen stand. Fünf der acht Pferde hatte man wieder einfangen können, drei waren noch nicht wieder aufgetaucht. Auf seine Frage nach dem Feuerkind bekam der Junge vom Pferdeknecht nur eine unwirsche Antwort. So hakte er nicht weiter nach.
Die Leute begannen zu reden. Nicht alles davon war freundlich. Trotzdem waren viele der Dorfbewohner dem Mädchen wohlgesonnen. Da war die alte Schmiedin, die dem armen Kind, wie sie immer sagte, regelmäßig Essen an den Waldrand brachte. Da war auch eine Familie, die versucht hatte, sie am letzten Heiligabend zu sich ins Haus zu holen. Sie hatten ihr Gesicht an der frostigen Fensterscheibe entdeckt, durch das sie mit großen Augen auf den Weihnachtsbaum gestarrt hatte, sehnsüchtig scheinbar. Die Mutter war nach draußen gegangen, sie zu holen, sah sie aber nur noch im Wald verschwinden.
Doch einmal hatte es jemand geschafft, das Feuerkind zum Bleiben zu bewegen. Die Holzfäller hatten im Wald ein Lagerfeuer entzündet, um sich ihr Abendbrot zu kochen, als das Mädchen zwischen den Schatten der Bäume auftauchte. Sie hatten es zu sich gewunken, es hatte sich wortlos gesetzt und mit ihnen gegessen. Einer in dieser Runde war der alte Hannes mit dem schlohweißen Haar und dem zerfurchten Gesicht. Er kam nur gelegentlich aus den Bergen ins Tal, um sich als Holzfäller zu verdingen, und war bekannt für seine Bärenkräfte. Der alte Hannes redete nur wenig, und wenn, dann war er meist kurz angebunden. Jedoch hatte man ihn schon zu Bäumen sprechen sehen.
Die Männer hatten dem Mädchen keine Fragen gestellt. Still saß es mit ihnen am Feuer und aß, sein Blick verlor sich meist in den Flammen. Doch dann begannen die Männer zu erzählen. Zaghaft zuerst, dann immer mehr. Sie erzählten von ihren Leben, ihren Familien und ihren Hoffnungen. Sogar der alte Hannes erzählte. Es waren gute Geschichten, die an jenem Abend am Feuer in den kalten Nachthimmel stiegen. Die Wärme aus den gefüllten Mägen der Männer wanderte hinauf zu ihren Herzen und von dort in ihre Kehlen, und sie lachten. Es war ein gutes Lachen, nicht zu laut, und nicht zu oft. Das Feuerkind sagte nichts, aber es lauschte mit dunkelglänzenden Augen und lächelte. Sein rotes Haar glühte im Schein der Flammen.
Tief in der Nacht, als das Feuer heruntergebrannt war und die Glut ihr orangefarbenes Licht verströmte, stand das Mädchen auf und verschwand. Die Glut fiel langsam in sich zusammen, aber die Wärme dieses Abends nahmen die Männer mit sich.
Eines Sommertages saß der Junge am Bach, um zu fischen. Es war brütend heiß, und die Nähe des Wassers spendete allem Leben Linderung. Das Wasser kräuselte sich gurgelnd um die Füße des Jungen, ansonsten war es still. Er steckte ein Stück Brot auf den Angelhaken, warf ihn ins Wasser, und die leichte Strömung nahm ihn gleich mit sich fort. Als er das nächste Mal aufschaute, sah er sie. Sie hockte ein Stück weiter unten am Bachufer und schien etwas zu suchen, das untere Drittel ihres Kleides achtlos im Wasser. Sie blickte auf und sah dem Jungen geradewegs in die Augen. Er holte tief Luft. Da streckte das Feuerkind seinen Arm aus und griff nach dem Angelhaken. Es hob ihn aus dem Wasser, stand langsam auf und trat ans Ufer, das Kleid völlig trocken. Als der Junge die Luft wieder ausstieß, begann die Angelschnur zu brennen. Reglos betrachtete er die Flammen. Dann ließ er die Rute fallen, sprang auf und rannte.
Von diesem Tag an suchte er sie. Dann und wann fand er sie auch, entweder in der Morgendämmerung oder des Abends, meist in der Nähe des Waldrandes. Manchmal saß sie auf dem riesigen Felsbrocken, der die Sonnenwärme speicherte. Sie sprachen nichts, doch ihm schien, ihre Augen hätten einen besonderen Glanz.
Eines Tages schlugen Angehörige des Fahrenden Volkes auf der Waldlichtung ihr Lager auf. Dunkelhäutige Menschen mit schwarzglänzendem Haar, die fremdartige Weisen am Feuer spielten. Wenn sie tanzten, blitzte Gold. Das Mädchen hatte aufgehorcht, als die Melodien erklangen, und war einfach hingelaufen. Eine alte Frau mit runzligem Gesicht und einem langen, strähnigen Zopf hatte etwas in der fremden Sprache gerufen, als sie das Mädchen erblickte. Sie war herbeigehastet, hatte es an der Hand genommen und mit sich gezogen. Der Junge schlenderte hinterher. Sie waren in einen der Wägen getreten, wo es nach Gewürzen und Schweiß roch. Eine fiebernde junge Frau lag in den Laken, und ein Neugeborenes schlief neben ihr in einem geflochtenen Korb. Die alte Frau flüsterte etwas Unverständliches und führte das Mädchen an das Lager, wo sich die Fiebernde unruhig hin und her wälzte. Schweißperlen bedeckten ihre Stirn. Es war stickig, und den Jungen drängte es nach draußen. Doch eine Bewegung des Mädchens hieß ihn bleiben. Sie beugte sich hinab über das Krankenlager und legte der Frau die Hand auf die Stirn. Nach kurzer Zeit beruhigte sie sich, und ihre Atemzüge wurden tief.
Als sie später mit den anderen am Feuer saßen, bemerkte der Junge erstmals das Fließen der Flammen. Wie sie an den Ästen emporleckten und züngelten, kam den Bewegungen des Wassers sehr nahe. Die aus dem krachenden Holz stiebenden Funken schienen ihm wie berstende Wassertropfen. Er fühlte, dass ihn fror, und so rückte er näher ans Feuer. Das leise Knistern und Flackern, der Rauchgeruch und das warme Leuchten der Glut ließen ihn vergessen, wo er war. Und dann war da ein riesengroßes eisernes Tor, das uralt schien, und auf das er zuschritt. Er lehnte sich dagegen und fühlte die Unebenheiten und die Kälte des Metalls. Dieses Tor war versehen mit allerlei Zierrat, gleichermaßen metallisch und kalt. Der Junge sah von unten hinauf und konnte kaum das Ende der Torflügel erkennen, das sich oben im Dunkel verlor. Auch die Breite des Tors war überdimensional. Für welche Art von Wesen war dieses Riesentor geschaffen worden? Wohin führte es? Es war kein Torknauf vorhanden. Und doch wusste der Junge, er musste hindurch, er musste durch dieses Tor, auf die andere Seite. Er schmiegte seine warme Wange an das kalte schwarze Eisen, und sein Herz schlug wild in seiner Brust vor Sehnsucht nach dem, was hinter dieser Pforte lag. Es hämmerte und bettelte um Einlass. Und so hämmerte der Junge gegen das Metall und rief nach den Wächtern des Tores. Aber niemand schien ihn zu hören. Er war alleingelassen.
Als er wieder zu sich kam, fing er ihren Blick auf, quer durch die prasselnden Flammen. Sie saß ihm gegenüber auf der anderen Seite des Feuers. Da stand sie ruhig auf und wandte sich zum Gehen. Er folgte ihr in den dunkelgrünen Wald.
Irgendwann blieb sie stehen. Sie bückte sich und hob scheinbar wahllos zwei Steine vom Boden. Dann kniete sie sich hin und begann sie aufeinander zu schlagen. Funken stieben, eine erste Flamme schoss empor und entzündete die Zweige, die sie darüber warf. Sodann drehte sie sich um und legte dem Jungen die Steine in die Hand. Nein, das waren keine Feuersteine, es waren einfache Flusskiesel. Er schüttelte den Kopf und wollte ihr die Steine zurückgeben, aber sie beharrte darauf, dass er es ihr gleichtun solle. Und so schlug er sie aufeinander, einmal, mehrmals, viele Male. Nichts. Nicht einmal ein Funke.
Er legte die Steine weg und trat einen Schritt auf sie zu. Sie wich nicht zurück. Er trat noch näher auf sie zu und konnte nun ihre Wärme fühlen. Ihr Atem ging ruhig und hatte den Duft von Rosmarin. In einer sehr langsamen Bewegung hob sie ihre Hand wie zum Gruß und öffnete sie. Die weiße Haut schimmerte im Dunkel, und etwas wie ein sanftes Glühen schien sie zu umspielen. Er hob seine Hand und legte sie an die ihre. Und da öffnete sich das eiserne Tor. Es sprang einfach auf, und er trat ein in einen Raum, der nur aus Feuer bestand, Flammen vom Boden bis weit hinauf ins Unendliche. Er ging weiter, Schritt für Schritt, hinein in das Herz der Flammen, ganz in ihre Mitte. Dort verharrte er brennend, und wie er seine brennenden Arme nach oben reckte, begann er zu tanzen und verschmolz mit dem Feuer.
Zwei Wochen später war sie fort. Sie hatten sie geholt, nach dem Waldbrand, hatten ihr die Hände gebunden und sie zur Kirche gezerrt. Sie war ganz ruhig gewesen und hatte alles mit sich geschehen lassen. Nur etwas Verwunderung stand in ihren Augen. Sie schimpften und schrien und fesselten sie an einen Baum. In dem Moment rief einer laut, und da wurden sie still. Die Menge teilte sich, und ein Mann ging langsam auf das Feuerkind zu. Es war der alte Hannes. Er betrachtete sie stumm, und sie erwiderte seinen Blick. Da wandte er sich den Leuten zu, und keiner tat mehr einen Laut. „Begreift ihr denn gar nichts?“ rief er, und band sie los. Sie drehte sich um und ging langsam fort. Sah sich nicht mehr um.
Wo sie gestanden hatte, fand man später einen kleinen Gegenstand, einen Ring, gebogen aus einem Angelhaken.
Ungefähr zur selben Zeit verschwand auch der Junge. Nur einer hat ihn noch ein letztes Mal aus der Ferne gesehen, weit draußen in der Ebene, wo er mithilfe von Steinen ein Feuer entzündete. Sein rotes Haar war unverkennbar gewesen.
Die Geschichte vom „Feuerkind“
finden Sie im Buch
Feuer, Erde, Wind & Meer
Literarische Impulse für Sinn & Seele
Wie gerne wäre ich der Junge, noch einmal ganz von vorn anfangen…
Mein Geist braucht eine ganze Weile,
um von der mystischen Reise
wieder zurück in seinen Körper,
in die Gegenwart zu finden.
Er ist gewachsen,
hat Licht empfangen.
Danke.