Eines Tages ging ich hinaus, um die edle Schönheit einer Rose zu betrachten, die in meinem Garten wuchs. Sorgenvolle Gedanken hatten mir das Herz verengt und ich suchte nach Linderung. Also beobachtete ich, wie die Rose ihre zarten Blütenblätter dem Sonnenlicht öffnete und bei Einbruch der Dunkelheit wieder verschloss. Glitzernde Regentropfen perlten an ihr ab und flossen den Stiel entlang zu ihren Wurzeln, um ihren Durst zu stillen. Winzige Insekten krabbelten über sie hinweg, und gelegentlich knickte der Wind eines ihrer Blätter. In ihrer gleichmütigen, strahlenden Schönheit gab sich die Rose den Elementen hin und schien sich nicht daran zu stören, was gestern war und morgen sein würde. Sie nahm es hin, wenn der Wind an ihren Blütenblättern riss oder der Mehltau an ihr fraß. Empfing die Geschenke des Moments und schien unberührt vom Getöse der Welt um sie herum.

„Hast du denn keine Wünsche?“, fragte ich sie. „Gibt es nichts, das du willst, keine Veränderung, die du herbeisehnst? Wie kannst du frei vom Wollen sein, wie kannst du nicht auf die Sonne hoffen, wenn der kalte Herbststurm über dich hinwegfegt?“

Die Rose schien zu lächeln und erwiderte: „Was willst du schon tun, um die Welt oder das Leben zu verändern, wenn das Leben selbst die Veränderung ist? Es wandelt sich in jedem Augenblick und mit jedem einzelnen Atemzug, den du tust. Es pulsiert seit Jahrmillionen und wird immer weiter pulsieren. Wohl nimmst du mit deinem Denken und Handeln Einfluss auf die Welt, und doch bist es nicht du, der etwas verändert. Es ist das Leben selbst, das sich durch dich ausdrückt und durch dich wirkt – ganz einfach dadurch, dass es dich zu dem geformt hat, was du bist.

Aus diesem Grund bin ich Rose, mit all der Kraft, die mir innewohnt und ungeachtet des Sturmes, der Sonne oder des Frostes, die mich umspielen. Ich verströme meinen Duft, öffne mein Innerstes dem Sonnenlicht und speise den Garten mit meiner Schönheit. Doch ich tue dies nicht, weil ich hoffe, dass ein Spaziergänger stehenbleibt, um mich zu bewundern. Ich tue es auch nicht, um die Welt zu verändern. Ich tue es, weil ich eine Rose bin und der einzige Grund, warum ich hier bin, jener ist, das Leben sich durch mich ausdrücken zu lassen – als Rose. Im Grunde bin ich weder schön noch hässlich, weder böse noch gut. Ich bin einfach nur das, wozu mich das Leben erschaffen hat. Oder bin ich böse, weil meine Dornen dich verletzen könnten?

Und so verströme ich meinen Duft und empfange freigiebig die Bienen, die mich besuchen kommen. Ich verschließe mich, wenn die Nachtkühle aufzuziehen beginnt und lasse die Morgensonne sich in den Tautropfen spiegeln, die an meinen Blättern hängen. Ich frage nicht danach, was mir das einbringt. Welchen Sinn hätte das?

Eines Tages werde ich gehen, so wie ich gekommen bin. Ich werde gehen in der Gewissheit, das gewesen zu sein, wozu ich geboren war: eine Rose.

Geh hinaus und sei du selbst. Verströme dich, ohne zu fragen, was du dafür bekommst oder ob du damit die Welt veränderst. Sei echt, mit all deinen Schattierungen von Dunkelheit und Licht. Dann bist du das sich stetig wandelnde Leben selbst.“

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