Du suchst mich in den vielen Gesichtern deines Lebens, die kommen und gehen. Wachsam lauschst du dem Klang meines Namens, den der Wind flüsternd zu dir trägt. Du sehnst dich nach der wärmenden Anschmiegsamkeit meiner Haut und nach dem Wildmohnduft meines Haars auf Deinem Kissen. Du hältst Ausschau, halb suchend, halb wartend, dein ganzes Leben lang. Da ist ein blinder Fleck in deinem Innersten, der dir keine Ruhe lässt, denn er erinnert dich von Zeit zu Zeit daran, dass du nicht vollständig bist ohne mich. Deshalb suchst du meinen Blick in Massen von Augenpaaren ebenso wie im tausendfach funkelnden Sternen-meer des Himmels. Und stetig treibt es dich voran, das Wissen darum, dass es mich gibt und dass ich vielleicht schon an der nächsten Weggabelung auf dich warte, um mit dir zu gehen und deine schwarzsamtenen Nächte zu teilen. Ich, der Geliebte deines Herzens und die Geliebte deiner Seele ohne Namen.

Du möchtest an meiner Seite ruhen und in der wonnigen Süße meiner Liebe Linderung deines tiefsten Schmerzes finden. Du glaubst, in der sicheren Gewissheit meiner Nähe die Erfüllung deiner sehnsuchtsvollen Träume von Liebe und Einheit zu erlangen. Du denkst, wenn wir erst einmal vereint sind, wenn ich dein und du mein bist, dann würde der pochende Schmerz deines blinden Fleckes nachlassen und das Ziehen in deiner Mitte verebben, welches dich deinen ganzen langen Weg bis zu mir geführt hat. Doch glaube mir, nichts könnte der Wahrheit ferner liegen.

Wie viele Male hast du diesen Traum schon geträumt? Und wie viele Male bist du ernüchtert aufgewacht, hast dir den Sand und deine Tränen aus den Augen gewischt, um dich aufzumachen, diesen Traum aufs Neue wahr werden zu lassen? Wie oft hast du dir dein Scheitern damit erklärt, das einst geliebte Wesen wäre nun einmal nicht für dich bestimmt gewesen? Hast dich unverstanden und ungeliebt gefühlt, nicht angesehen und nicht angenommen als das, was du wirklich bist? Und hat sich in den verborgenen Tiefen deines Herzens gar der Glaube eingenistet, du wärst vollständiger, schöner, reicher und geliebter durch die Liebe des Anderen gewesen? Und somit nun wieder unvollständiger, hässlicher, ärmer und ungeliebter, weil jener Andere dich verlassen hat? Und nun suchst du weiter nach mir und wartest auf mich.

Deine Tage verstreichen, und die Zerstreuung bringt deinen Sinnen keine Ruhe, weil du deinen Blick unaufhörlich nach Außen richtest, auf den Horizont, an dem du mich schon zu erkennen glaubst. Du beschattest deine Augen mit der Hand und hältst Ausschau nach mir. Nun senke deine Hand wieder, schließe deine Augen und bleibe bei dir selbst. Warte nicht auf mich, denn der Ursprung der Liebe, die du dort draußen suchst, findet sich an keinem anderen Ort als dort, wo du bist.

Es ist nicht so, dass ich nicht zu dir kommen könnte. Wohl könnte ich an deine Tür klopfen, in dein Leben treten und mich lächelnd an deine Seite legen. Es wäre schön. Vielleicht stehe ich ja sogar schon da draußen, hast du schon mal nachgesehen? Vielleicht sitze ich sogar neben dir, und vielleicht liegt meine Hand schon in deiner. Vielleicht haben wir schon weite Wege Seite an Seite miteinander zurückgelegt, ohne dass du mich erkannt hast. Und vielleicht bin ich auch schon wieder gegangen, weil sich der Traum der Hohen Liebe, den du klammheimlich geträumt hast, mit mir nicht erfüllen konnte.

Solange du glaubst, dass ich es bin, der dein Herz zum Singen bringt und dass es mein Ja wäre, dessen Bestätigung du brauchst, können wir nicht hinausgehen und uns von der wilden Brandung einer  Liebe überspülen lassen, deren elementare Kräfte gewaltiger sind als die des Weltenozeans selbst. Solange du dich selbst nicht so ungezähmt und vorbehaltlos lieben kannst, wie du es dir von mir wünschst, wirst du auch meine Liebe immer nur als gezähmt und voller Vorbehalte empfinden. Und solange du dich nicht selbst vollkommen erkannt und dich von der Vorstellung deiner Unvollständigkeit geheilt hast, wirst du nicht davon ablassen, meine Liebe mit deinen Hoffnungen, Wünschen, Erwartungen und Forderungen niederzuzwingen und schließlich zu ersticken.

Denn sieh, ich bin dein Spiegel, der dir nur das zeigen kann, was in ihn hineinblickt. Also liebe dich selbst maßlos und voller Hingabe. In diesem Raum deiner uneingeschränkten Selbstliebe können wir zueinander finden. Diese Liebe ist das Gegenstück zum Egoismus, denn sie entspringt der Selbsterkenntnis sowie der Erkenntnis des Selbst im Anderen. Sie ist das Tor zur Hohen Liebe und zu einer Ekstase, wie sie nur erlebt werden kann, wenn zwei  für sich stehende Einheiten einander im Spiel der Liebe berühren und danach auch wieder voneinander ablassen.

Und wenn wir erst einmal dort sind, dann wirst du in deiner Fähigkeit zu lieben über dich selbst hinauswachsen. Du wirst mich sogar gehen lassen können und mich weiterlieben, ganz frei und ohne Groll. Und vielleicht wirst du sogar irgendwann feststellen, dass deine Liebe so unermesslich und weit geworden ist, dass sie keine Grenzen mehr kennt und alles mit einschließt, was ist. Dies ist die Liebe in ihrer Vollendung und in ihrer wahren Natur. Frei, ungezähmt, wild und überbordend, nichts fordernd und alles schenkend, weil sie alles hat und nichts mehr braucht.

Nun verstehst du vielleicht, dass du mich nicht haben kannst. Du kannst mich nicht besitzen, und du wirst bei mir keine Sicherheit finden, die du nicht bereits aus dir selbst schöpfst. Auch wirst du  bei mir keinen Frieden finden, den du nicht schon tief in dir selbst trägst. Doch du kannst in deiner Liebe zu mir neue Dimensionen von Freiheit und Freude entdecken, weil du keine Angst mehr davor hast, mich zu verlieren. Du kannst uns ein Lager auf zartblättrigen Wildmohnwiesen bereiten, wo wir uns immer wieder von neuem begegnen und wieder verlieren können im endlosen Spiel der Liebe.

Und wenn du mich dann schließlich in dir selbst wiedergefunden hast, wird diese Liebe der Welt ihre unauslöschlichen, kosmischen Spuren aufdrücken und sie für immer verändern.

Denn ich bin auf ewig der Geliebte deines Herzens, die Geliebte deiner Seele ohne Namen.

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