Ich weiß, dass es einmal eine Zeit gab, als alle Frauen ein Paar purpurfarbener Flügel besaßen. Sie hüteten diese Flügel wie ein Heiligtum, verwahrten sie sorgsam in ihren Brauttruhen zwischen Bahnen aus wilder Seide und anderen köstlichen Stoffen. Die Federn der Flügel waren so schimmernd glatt und fein, dass sie sich anfühlten wie ein gehauchter Engelskuss, wenn sie die Haut streiften. Das Purpur der Flügel war tiefdunkel und erinnerte an die Farbe von Wüstenschatten. Man sagte, es wären wohl tatsächlich Engelsfedern, aus denen die Flügel gemacht waren, und dass es hundert Jahre dauerte, um nur ein einziges Paar davon herzustellen. Dennoch besaßen zu jener Zeit alle Frauen ein solch kostbares Flügelpaar, einer Zeit, die schon unendlich lange vorbei und vergessen ist. Wenn man den Erzählungen Glauben schenken kann, war dies das Zeitalter, in dem das Paradies auf Erden weilte.

Die purpurnen Flügel wurden von den Müttern an ihre Töchter weitergereicht, und von diesen wiederum an die Töchter. Die Magie, die die Flügel umgab und die auf geheimnisvolle Weise in sie eingewoben war, wurde nur von Frau zu Frau weitergegeben, und niemals wurde ein Mann in den machtvollen Zauber eingeweiht, den die Flügel ihren Trägerinnen verliehen. Doch gereichte dies den Männern nicht zum Nachteil, denn die Frauen liebten ihre Gefährten, und es waren nicht zuletzt diese selbst, die von Kraft und Wissen der Flügelfrauen zehren konnten. Wenn ein Mann eine Frau zum Weib nahm, dann in dem seligen Wissen, dass diese ein purpurnes Flügelpaar in die Ehe mit einbrachte, und dass ihm und seinen Nachkommen unendlicher Segen daraus erwachsen würde. Er wusste, die Frau würde die ihr verliehene Macht der Flügel stets zum Wohle der Familie einsetzen, und er würdigte das damit verbundene Mysterium.

Einmal im Monat, wenn der Mond rund war, verließen die Flügelfrauen des Nachts ihre Häuser und versammelten sich, um gemeinsam das altheilige Ritual zu zelebrieren, das alle Frauen kannten. Die Männer ließen sie gehen. Wenn an diesen Abenden das Leben im Hause zur Ruhe kam, das Tagewerk erfüllt und die Kinderschar eingeschlafen war, stiegen die Frauen aus ihren Alltagshüllen und holten ihre purpurnen Flügel aus den Truhen. Dies war der Moment, auf den sie lange gewartet und für den sie viel Mühsal auf sich genommen hatten. Es war die Zeit, in der sie nur sich selbst gehörten, sich selbst und dem ewig pulsierenden Rhythmus des Weiblichen.

Über die Stätten, an denen sie sich trafen, legte sich eine schwere, dunkle Magie, und die Flügelfrauen tauchten vertrauensvoll ein in den Bann einer überirdischen Macht. In dem Moment, in dem sie sich an den Händen fassten und den Kreis schlossen, spannten sie ihre Purpurflügel weit auf in Erwartung dessen, was die Quelle der Göttin für sie bereithielt. Dann erhob sich langsam ein zarter Wind, sachte fuhr er den Flügelfrauen über die Haut und durch die Federn. Liebkoste spielend jede einzelne von ihnen, um mehr und mehr anzuschwellen, an ihrem Haar zu reißen und es aufzufächern wie Geysire. Fest hielten sich die Frauen an den Händen, lachend boten sie sich den unsichtbaren Mächten der Lüfte dar und ließen geschehen, was geschehen wollte. Wenn das Brausen des Windes schließlich in ein nicht mehr zu bändigendes Sturmgeheul übergegangen war, das an Flügeln, Haaren und Gliedmaßen der Frauen wild zerrte, erhoben sich die ersten von ihnen in die Luft und begannen mit den Windgeistern umherzuwirbeln. Die nächsten folgten bald, und irgendwann war der Nachthimmel erfüllt vom Jauchzen der Flügelhexen, die sich mit ihren Geliebten, den Sturmmächten, in einem ekstatischen Freudentanz vereinigten.

Wenn die ungestümen Mächte schließlich wieder von den Frauen abließen und sie sanft auf dem Mutterboden absetzten, ihnen ein letztes Mal zärtlich durchs zerzauste Haar fuhren, waren die Flügelfrauen erfüllt von der Kraft der alten Göttin. Einer Kraft, die mit der einer Bärin vergleichbar ist, die ihre Jungen säugt, allen Widrigkeiten trotzend und ausgestattet mit unendlicher, nährender Fülle. Die Frauen glätteten ihr Haar, falteten die Flügel zusammen und gingen still lächelnd nach Hause zu ihren Liebsten, als hätten sie nicht soeben noch mit den wilden Sturmgesellen getanzt und sich gebärdet wie zügellose Windsbräute.

Auf leisen Sohlen traten sie an die Betten ihrer Kinder, küssten sie aufs weiche, duftende Haar und zogen ihre Decken zurecht. Dann öffneten sie ihre Brauttruhen, streiften die Purpurflügel ab und legten sie zwischen raschelnden Stoffen und anderen Kostbarkeiten zur Ruhe. Bevor sie die Truhen wieder schlossen, fuhren sie mit der Hand noch einmal über die dunklen Federn und spürten ihre samtige Weichheit. Manchmal war es dann noch wie Funken, die unter der Hand davonstoben und sich leise knisternd im Nachtschwarz verloren.

Die Zeit der Flügelfrauen war eine glückselige Zeit für das ganze Menschengeschlecht. Doch wie es bei den Menschen nun einmal ist, verblasst selbst das Strahlen des Schönen und Guten irgendwann zu einem Abglanz seiner selbst, um schließlich langsam zu entschwinden und der Gewohnheit zu weichen. Keiner weiß mehr, wie es begann, wie die Magie der Flügelfrauen verfiel und das geheime Wissen verloren ging. Mag sein, dass unter den Frauen selbst eine Art Rivalität entstand, dass sie begannen, sich zu messen und zu vergleichen. Waren die Flügel der einen da nicht ein klein wenig größer, war ihr schimmernder Glanz nicht ein klein wenig intensiver? Hatte die eine da nicht die schöneren und klügeren Kinder, waren die Liebhaber der anderen nicht ein klein wenig interessanter, stärker oder einflussreicher? Und mit dem Zwist, der unter den Flügelfrauen Einzug hielt, machten sich auch all die anderen Laster breit, und die Kräfte aus der glanzvollen Zeit der Purpurflügel schwanden dahin.

Es kam sogar so weit, dass die Männer Feindseligkeit gegenüber ihren Gefährtinnen zu entwickeln begannen. Sie fühlten sich plötzlich übervorteilt und hintergangen und misstrauten der Macht, die die Flügel ihren Frauen verlieh. Sie fingen an, ihnen zu verbieten, das altheilige Ritual zu feiern, denn sie wurden eifersüchtig auf die Ungezügeltheit der Sturmmächte und auf das Geheimnis, das diese mit ihren Gefährtinnen verband. Misstrauen machte sich breit, und irgendwann beraubten die Männer ihre Frauen der Purpurflügel. Viele davon wurden ins Feuer geworfen, auf dass sie den Frauen keine Macht mehr verleihen konnten. Eine böse, dämonische Macht, wie die Männer jetzt meinten. Und letztendlich unterwarfen sich mehr und mehr der Frauen aus freiem Willen ihren Männern, legten die Flügel ab und verloren damit den Zugang zur unversiegbaren Weisheitsquelle der Göttin.

Das Mysterium der Purpurflügel geriet allmählich in Vergessenheit, und das alte Wissen versank im düsteren Dunkel der Zeit. Die Frauen erfüllten die ihnen zugedachten Aufgaben wie ehedem, gebaren Kinder und zogen sie auf, umsorgten ihre Familien und liebten ihre Gefährten hingebungsvoll. Der Schatten der Göttin jedoch war von ihnen gewichen, und die mühevolle Last ihrer Tage drückte die Frauen nieder. Ihre Augen wurden glanzlos und ihre Herzen leer. Sie füllten diese Leere mit allerlei anderem, das ein Erdenleben so zu bieten hatte. Doch eine angefüllte Leere ist nicht dasselbe wie Erfüllung.

Dann und wann erzählte man sich an den Feuern noch die überlieferten Mythen und Legenden. Und wenn eine der alten Frauen ihre Zuhörer recht in den Bann zu ziehen wusste, ergriff diese urplötzlich ein Hauch von dem verlorenen, geheimnisumwitterten Zauber. Und ohne es wirklich erfassen zu können, fühlten sie doch in ihrer Mitte ein zartes Ziehen, eine Sehnsucht nach dem, was einmal war. So manche der Frauen saß dann an diesem Feuer, hing an den Lippen der alten Geschichtenerzählerin, und in ihren Augen begann sich ein Abglanz dessen zu zeigen, was einst das leuchtende Strahlen der Göttin gewesen war. Doch irgendwann gab es auch die alten Geschichtenerzählerinnen nicht mehr, und der letzte Funke des Mysteriums erlosch.

Als ich vor ein paar Tagen um die alte Ruine strich und die efeubewachsenen Gemäuer betrachtete, fiel mir eine Feder vor die Füße. Es war keine Feder wie die anderen, die großen schwarzglänzenden oder die kleinen weißflaumigen. Es war eine Feder von solcher Schönheit, wie ich noch nie zuvor eine gesehen hatte. Sie war lang und schimmerndglatt, und ihre Farbe erinnerte mich an Wüstenschatten.

Vielleicht ist noch nicht alles verloren. Vielleicht bricht nun eine Zeit an, in der sie wieder fliegen können. Die Frauen mit den Purpurflügeln.

Die Geschichte von den “Purpurflügeln”
ist enthalten im
iKombipack Buch & Audio-CD

Feuer, Erde, Wind & Meer