Menschen kommen in unser Leben, gehen wieder und immer verändert sich etwas dabei. Es gibt Begegnungen, die flüchtig sind wie der Wind und doch etwas so tief in uns anrühren, dass wir nicht mehr dieselben sind, wenn es vorbei ist. Manchmal besteht ihre Aufgabe darin, uns zum rechten Zeitpunkt an etwas zu erinnern, das tief in uns selbst schlummert. 

Sie waren einander schon ein paar Mal über den Weg gelaufen. Immer waren viele Menschen dabei gewesen, und die Orte, an denen sie sich trafen, hatten nichts Geheimes gehabt. Er war gekommen und hatte sie manchmal angesehen, und anfangs hatte sie sich ein wenig vor ihm gefürchtet. Ihre Blicke trafen sich wie aus dem Dunkel einer vergessenen Zeit, und keiner kannte den Namen des anderen. Irgendwann begann sein Blick länger auf ihr zu ruhen, zu lange, und da fühlte sie sich erkannt. Es war wie das entfernte Donnern der Brandung, welches das Herz  mit Vorfreude erfüllt, und wie der Meergeruch, der in der Luft liegt, noch bevor man das Wasser sehen kann. Noch ohne zu wissen, was sie da tat, begann sie, sich zu erinnern und ihre Geschichte niederzuschreiben.

Oft sahen sie sich lange Zeit nicht, und da vergaßen sie einander wieder. Wenn sie sich dann plötzlich wieder gegenüberstanden, zog es ihr den Boden unter den Füßen davon, und sie erschrak. Sie konnte die Wellen fühlen, die sie mitzureißen drohten. Sein Gesichtsausdruck blieb finster, und fast mochte sie die Hand heben und fühlen, ob seine Haut so kalt war wie sie aussah. Und ihn mit einer Berührung zum Leben erwecken. Alles was er tat, konnte auch den anderen gelten, die da waren, und tat es auch. Und all die Orte, an denen sie ihn traf, konnten auch zufällig gewählt sein, um das zu tun, was den anderen galt. Und trotzdem ergriff sie eine seltsame Unruhe, ob das, was er tat, vielleicht ihr gelten könnte.

Einmal, in der dunklen Jahreszeit, kam er zum Fest der Lichter. Sie zogen alle gemeinsam durch die Stadt und füllten die Gassen mit dem warmgoldenen Schein ihrer Kerzen. Sie sangen. Das Meer aus Licht und Wärme flutete die Straßen, drang bis in den letzten Winkel vor und verlieh den Gesichtern ein überirdisches Leuchten. Er war stets in ihrer Nähe, aber sie sah nicht hin. Sie konnte seinen Blick fühlen, später, in der Kirche, aber noch immer sah sie nicht hin. Draußen hing Nebel feucht und schwer in der kalten Nachtluft, und den Mündern entstiegen kleine Rauchsäulen. Sie hatte gefroren und lief schnell nach Hause.

Der Sommer ging vorüber, ohne dass sie einander begegneten. An einem der letzten warmen Septembertage liefen sie sich über den Weg, und diesmal mag es wirklich Zufall gewesen sein. Er wandte ihr den Rücken zu und ging weiter. Sie beeilte sich nicht und betrachtete ihn, wie er da vor ihr ging. Seine hohe Gestalt, die kräftigen Beine in den knielangen Hosen. Wie er stehen blieb, dies und das begutachtete, weiterging. Sie hatte immer noch keine Eile und tat, was sie zu tun hatte, und doch musste sie irgendwann an ihm vorbei. Und als er sich ihr zuwandte, lächelte sie. Sie hatte schon zu lächeln angefangen, bevor er sie ansah, als bereitete sie sich auf seinen Blick vor. Es waren nur Bruchteile von Sekunden, als er sie anschaute und sie vorüberging, aber sie konnte es später nicht mehr vergessen. Ein schwaches Lächeln hatte auch seine Lippen umspielt, und es war keineswegs ein spöttisches gewesen.

Dieser kurze Augenblick, in dem sie einander mit einem unerwarteten Lächeln überrascht hatten, hielt sie von da an gefangen. Die Tage vergingen, sie erfüllte ihre Aufgaben wie gewohnt, doch die Erinnerung holte sie immer wieder ein. Sie ging wie durch Wasser. Es war besonders schlimm, wenn sie ruhen wollte. Dann quälte sie sich. Sie schrieb ihre Geschichten nieder und wusste nicht, ob diese vielleicht nur uralte Erinnerungen waren, derer sie sich nun entledigte.

Auch begann sie, manchmal durch die Straßen zu laufen in der Hoffnung, ihm zu begegnen. Fand seinen vollen Namen heraus und wusste nun auch, wo er wohnte. Aber nie, nicht ein einziges Mal kam sie in die Nähe seines Hauses, und niemals tat sie irgendetwas, um eine Begegnung mit ihm herauszufordern. Stattdessen stiegen Bilder in ihr auf, Ahnungen und Gefühle wie der verblichene Abdruck von etwas Dahingegangenem.

Nachts lag sie mit offenen Augen in der Dunkelheit, und ihr Atem war flach. Fühlte Wasser durch ihr Becken strömen und an ihr reißen, kaltes, wildes Wasser. Und dann stand sie an einem dunkelgrauen Abend im November in dieser Straße, und die Menschenmenge floss an ihr vorüber. Sie sah ihn, wie er sich umwandte, und wie er langsam auf sie zukam, ganz zufällig. Sein Blick hielt sie fest. Die anderen vereinzelten sich und die Straße wurde leer. Sie wich langsam zurück und lehnte sich an eine kalte Hausmauer. War ganz ruhig, als er vor ihr stand, als habe sie darauf gewartet. Komm, sagte er nur, und zog sie am Arm mit sich fort. Sanft, und doch bestimmt. Die Straße war inzwischen menschenleer, und der Wind spielte mit welkem Laub.

Er sagte kein weiteres Wort. Sie kamen an sein Haus und ohne sie anzusehen öffnete er die Tür. Sie traten ein und ließen die feuchtkalte Luft draußen. Graues Licht fiel durch ein kleines Fenster in den Flur, von dem aus sie den dunklen Wohnraum betraten. Es roch nach Holz und nach warmem Ofen. Wortlos machte er Licht und ging ihr voraus zum Tisch, stellte zwei Gläser darauf und schenkte ein. Scharf brannte der Schnaps in ihrem Mund, kratzte sich seinen Weg ihre Kehle hinab. Da blickte er sie das erste Mal an, und sie sah, dass seine Augen die Farbe des Meeres hatten. Wohlige Wärme durchströmte ihren Bauch. Es fühlte sich gut an, hier zu sein, und als er zu ihr kam, lehnte sie sich entspannt an ihn. Seine Hand fuhr durch ihr Haar und wärmte ihren Nacken. Sie schloss die Augen, als er mit den Fingern ihr Gesicht erkundete. Mit den Daumen strich er über ihre Augenbrauen, dann die Schläfen hinab und weiter über ihr Kinn. Ihre Lippen öffneten sich, als seine Finger ihren Hals entlang fuhren, und als seine Hände ihr Becken umschlossen, begann sie zu weinen.

Eine Uhr tickte vertraut in der Stille. Atemzüge, die langsam und schwer gingen und allmählich ineinander flossen. Als sie sich zu einander legten, wich die Fremdheit und gebar ein Verlangen, das geheilt war von allem Schmerz und das allen Schmerz heilte. Dessen unschuldige Wildheit sich aufbäumend in die Wogen warf wie der Delphin in die schäumenden Wellen des Meeres. Draußen verwandelte sich der dunkelgraue Abend in schwarz-silberne Nacht, und keiner in der Stadt wusste von dem, was hinter dieser Tür geschah, hinter diesen verschwiegenen Mauern, die sich schützend um einen Traum legten, den zwei Menschen hier miteinander zu Ende träumten. Von einer uralten Sehnsucht, die sich erfüllte und nun zur Ruhe kam. Von dem Schmerz, der seinen Weg aus der Seele fand und nun vergehen konnte, gelöst aus dem Bann der Zeit.

Als alles still wurde, als das Meer wieder ruhig und schwarz da lag wie ein Spiegel, der dem Wind keinen Widerstand mehr bietet, zog sie sich an und ging. Sie schloss die Tür hinter sich und atmete tief die schneidende Luft.

Die Lichter der Nacht verblassten.

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