Es ist an den Schwellen, wo wir beginnen, ein klein wenig von dem zu verstehen, was wir Leben nennen. Wir gehen über jene Schwellen und wissen, dass ab sofort nichts mehr so sein kann wie vorher und dass es kein Zurück mehr gibt. Wir wissen es, weil wir einen Teil von uns selbst dabei zurücklassen. Einen Teil, der uns in Wirklichkeit nie gehört hat und den wir aber doch besitzen wollten. Oder weil wir manchmal auch einen Teil wiederfinden, den wir irgendwann einmal verloren haben auf dieser unsäglich langen Reise.

Es ist an den Schwellen, wo die Dinge anfangen, Sinn zu ergeben, weil wir aufhören zu ziehen und Widerstand zu leisten. Weil wir aufhören zu kämpfen und anzuklagen. Auf einmal reduziert sich alles auf die Liebe, diese süße Liebe, die wir eigentlich meinten, aber nicht sagen und tun konnten, weil ein alter Schmerz unsere Worte verdunkelte, unsere Ohren täuschte und einen Schleier vor unsere Augen legte. An der Schwelle nimmt das Nichtgesagte strahlende Formen an, deren Licht sanft durch die dunkle Färbung dringt. Hier wird den Worten ihre wahre Bedeutung zurückgegeben und wir beginnen, das Wesentliche zwischen den krakeligen Zeilen des Lebens zu lesen.

Wenn wir über die Schwellen gehen, sehen wir plötzlich wieder kristallklar. Wir durchschauen das Rollenspiel, dem wir uns hier verschrieben hatten. Begreifen es als das, was es in Wirklichkeit ist, eine Ebene, auf der wir uns selbst immer wieder aufs Neue verlieren und in unserem Gegenüber suchen dürfen, manchmal blind und taub und hilflos tastend. Dann und wann erhaschen wir dabei einen Teil von uns selbst und freuen uns wie ein Kind an unserer eigenen Spiegelung im liebenden und annehmenden Blick des anderen. Doch meist begreifen wir in diesen einzigartigen Momenten nicht, dass wir selbst es sind, der uns da entgegenlacht. Wir wollen ihn besitzen, diesen Aspekt, fordern ihn vom anderen ein, erschaffen dadurch Schmerz und vergessen uns dabei gänzlich. Hinter den Schwellen erinnern wir uns wieder.

Es ist an den Schwellen, wo wir unseren tiefsten Ängsten und unserem größten Schmerz endlich ins nackte Angesicht blicken müssen und doch spüren können, dass etwas Heilsames darin liegt. Etwas zerbricht, eine Saite reißt und wir werden wieder zu dem Kind, das wir einmal waren und das tatsächlich immer noch in uns lebt. Hier, an diesem Ort an den Schwellen, darf es sich endlich zeigen so wie es ist, und wir verstehen, warum es weint, wonach es schreit und wonach ihm immer gedürstet hat. Und wenn wir noch einen Schritt weitergehen, einen winzigen Schritt, dann begegnen wir auch dem Kind im Anderen und verstehen auch dessen Schmerz. Diesen unsagbar großen, alten, dunklen Schmerz, der vielleicht niemals sein durfte und der so vieles von dem bestimmt hat, was der Andere sagte und tat oder nicht sagte und nicht tat. Was er uns war und was er uns nicht sein konnte. Wir verstehen plötzlich, warum alles so sein musste wie es war, ja, warum es gar nicht anders sein konnte. An den Schwellen finden sich die Kinder in uns wieder, um endlich in unbefangener Freude miteinander zu spielen.

Es ist an den Schwellen, wo uns langsam dämmert, wie viele Bedingungen und Forderungen wir immer an unsere Liebe geknüpft haben. Ebenso wie wir das ganze Ausmaß des Schmerzes begreifen, den unsere Seele erlitten hat, weil der andere uns vielleicht nicht vorbehaltlos lieben konnte. Weil er uns vielleicht nicht so sehen konnte wie wir wirklich sind. Wie tief ist diese Wunde und wie alt! Wo liegt ihr Ursprung? Wann hatte der erste in unserer Ahnenreihe begonnen, Bedingungen an seine Liebe zu einem Kind zu knüpfen und so den Samen für einen Generationenschmerz gelegt? Wir werden es nie erfahren, denn im Grunde ist es unwesentlich. An den Schwellen erkennen wir, dass wir wohl imstande sind, bedingungslos zu lieben. Es tut noch ein bisschen weh, aber es liegt kein Gift mehr in diesem Schmerz.

Wir verlieren etwas an den Schwellen, um etwas anderes wiederzufinden. Eine Illusion, uns selbst, einen anderen Menschen. Indem wir ihn loslassen und freigeben, indem wir es endlich gut sein lassen können, weil wir es nun verstanden haben. Und indem wir uns selbst verzeihen. All das geschieht an den Schwellen.

An den Schwellen beginnen wir auch zu begreifen, wie haltlos wir waren in unserer Beziehung zu uns selbst. Erst jetzt beginnen wir die Liebe zu uns selbst zu entdecken, sie langsam und sachte in uns zu erwecken aus ihrem Dornröschenschlaf. Und indem wir imstande sind, uns selbst das zu geben, was wir uns immer vom anderen erhofft, ja von ihm eingefordert hatten, erlösen wir ihn aus den Banden unserer kindlichen Forderungen und von einer erdrückenden Last, die wir auf seine Schultern gelegt hatten. Auf einmal beginnt etwas zu fließen und zu leben. Schwere und Dunkelheit lösen sich auf und geben Raum für echte, warme, überbordende Liebe.

Die Liebe. Erst an den Schwellen beginnen wir, in sie einzutauchen wie in das Urmeer, aus dem wir stammen. Das Salz dieser Liebe ist so anders als die Süße jener Liebe, die uns gelehrt und vorgelebt wurde. Jener Liebe, die erwartungsvoll auf den anderen blickt, weil sie sich selbst unvollständig glaubt. Die Liebe hinter den Schwellen beginnt sich langsam, aber sicher, von den unsichtbaren Fesseln aller Bedingungen zu befreien. Sie beginnt, leicht zu werden, weil sie nichts mehr braucht, sondern sich verströmt. Dies ist der Ort, an dem wir heil werden und erst aus diesem Heilsein heraus den anderen zum ersten Mal wirklich sehen können.

Wir begegnen einander wieder, irgendwann, hinter den Schwellen. Vielleicht verabreden wir uns dort zu einer neuen Reise, um die unergründlichen Tiefen und Begrenzungen des Menschseins zu erforschen. Wenn die Dunkelheit zu mächtig, der Weg zu weit und die Antwort nicht auffindbar ist, können wir vertrauensvoll loslassen und wissen, dass wir sie einmal doch finden werden. Spätestens an den Schwellen.

Auftragswerk aus der Rubrik Impulsgedanken

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